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Das Kriegstagebuch des Dominik Richert:Ein Denkmal für Deserteure

„Mut, Heldentum, ob es das wohl gibt?“

Von Volker Ullrich

An den langen Winterabenden nach 1918 schrieb Dominik Richert, ein Bauer aus dem kleinen elsässischen Dorf St. Ulrich, auf, was er als deutscher Soldat im Ersten Weltkrieg erlebt hatte – acht Quarthefte voll, in gestochen scharfer Sütterlinschrift. Sie wanderten irgendwann in eine Schublade auf dem Dachboden des Hauses. Zufällig wurden sie hier Jahrzehnte später, Anfang der sechziger Jahre, von einem Freund der Familie, einem jungen französischen Studenten, entdeckt. Er machte sich die Mühe, die altertümliche deutsche Handschrift in Maschinenschrift zu übertragen.

Doch die Suche nach einem Verlag blieb erfolglos; die Abschrift gelangte über Umwege ins Bundesarchiv-Militärarchiv nach Freiburg. Hier wäre sie vermutlich endgültig der Vergessenheit anheimgefallen, wenn nicht der junge Berliner Historiker Bernd Ulrich Mitte der achtziger Jahre, wiederum eher zufällig, auf das 300 Seiten starke Konvolut gestoßen wäre und sich – gemeinsam mit der Journalistin Angelika Tramitz – nach intensiven Recherchen nach der Herkunft des Manuskripts und seines Verfassers zu einer Publikation entschlossen hätte. Und glücklicherweise fand sich diesmal auch ein Verlag, der den Wert dieser Entdeckung zu schätzen wußte.

Die Kriegserinnerungen des Dominik Richert sind eine ungewöhnliche historische Quelle, und zwar nicht nur deshalb, weil sich hier ein einfacher Soldat als außerordentlich genauer und sprachmächtiger Berichterstatter erweist, sondern mehr noch dadurch, daß der Autor, im Unterschied zu den meisten seiner Leidensgefährten, die nach 1918 zur Feder griffen, konsequent darauf verzichtete, dem als sinnlos erlebten Kampf nachträglich irgendeinen Sinn abzugewinnen. Seine Herkunft aus dem Grenzland Elsaß, in dem der Haß auf den preußischen Militarismus gerade noch durch die Zabern-Affäre 1913 neue Nahrung erhalten hatte, machte Dominik Richert immun gegen den Hurrapatriotismus, wie er besonders bei Ausbruch des Krieges Anfang August 1914 grassierte. Den Begeisterungstaumel seiner Kameraden aus dem 112. badischen Infanterieregiment, das in der Garnisonstadt Mühlhausen stationiert war, kommentiert er mit dürren Worten: „Mir war es absolut nicht ums Singen, denn sofort dachte ich, daß man im Kriege nichts so gut wie totgeschossen werden kann. Das war eine äußerst unangenehme Aussicht.“

Dieses Wissen begleitete den unfreiwilligen Angehörigen einer ungeliebten Armee während des ganzen Krieges, der ihn zunächst in die Grenzkämpfe im Elsaß, danach, im Herbst 1914, an die im Stellungskrieg erstarrende Front in Flandern führte. Seit Januar 1915 nahm er an den Kämpfen in den Karpaten teil, seit Anfang 1916 lag er mit einer Maschinengewehr-Kompanie an der nordrussischen Front. Nach dem Friedensvertrag von Brest-Litowsk im März 1918 wurde er mit seiner Einheit wieder an die Westfront verlegt, um hier die Kräfte für die letzte große Offensive des deutschen Heeres zu verstärken. Von zwei kurzen Urlauben und einem mehrmonatigen Lazarettaufenthalt abgesehen, war Dominik Richert also ununterbrochen „im Einsatz“. Über vier Jahre erfuhr er am eigenen Leibe, was es bedeutet, „nicht leben zu können, wie es einem Menschen zusteht“ – so seine fortwährende Klage, die wie ein Leitmotiv diese Kriegserinnerungen durchzieht.

In einer nüchternen, dennoch bild- und ausdrucksstarken Sprache schildert der Autor die Leiden und Strapazen der Soldaten im Ersten Weltkrieg, das Maulwurfsleben im Schützengraben, die Demütigungen und Schikanen durch Vorgesetzte, den unerbittlichen Wechsel von Angriff und Erholung, der den Rhythmus des Stellungskrieges diktierte, den ständigen Hunger, den massenhaften sinnlosen Kriegstod. Die großen Worte von „Kampfesmut“ und „Heldentod“ werden in diesem Buch als das kenntlich gemacht, was sie waren (und sind): hochtönende Phrasen, die spätestens durch die mörderische Wirklichkeit der Materialschlachten als solche entlarvt wurden. „Mut, Heldentum, ob es das wohl gibt? Ich will es wohl bezweifeln, denn im Feuer sah ich nichts als Angst, Bangen und Verzweiflung in jedem Gesicht geschrieben. Von-Mut, Tapferkeit und dergleichen überhaupt nichts; in Wirklichkeit ist’s doch nur die furchtbare Disziplin, der Zwang, der den Soldaten vorwärts und in den Tod treibt.“

Als Angehöriger einer Minderheit, die militärisch als besonders unzuverlässig galt und daher auch manchen Diskriminierungen ausgesetzt war, empfand Dominik Richert den Zwangscharakter der preußisch-deutschen Militärmaschine sicher stärker als zum Beispiel Kriegsfreiwillige, die im Bewußtsein in den Krieg zogen, das Vaterland verteidigen zu müssen. Doch auch bei diesen war, wie den Erinnerungen zu entnehmen ist, die Kriegsbegeisterung spätestens mit dem ersten Angriffsbefehl verraucht. „Mit einem Schlage war alles Lachen, aller Humor wie weggeblasen. Alle Gesichter hatten denselben ernsten, gespannten Ausdruck… Ich glaube nicht, daß einer an das Vaterland oder sonstigen patriotischen Schwindel dachte. Die Sorge um das eigene Leben drängte alles andere in den Hintergrund.“
 

Bereits im Oktober 1914 – so berichtet der Erzähler – trieben Offiziere die Soldaten, die sich weigerten, erneut sinnlos gegen die englischen MG-Stellungen anzurennen, mit gezückten Pistolen aus den Gräben. Die vielbeschworene „Frontgemeinschaft“ entpuppt sich als ein Mythos – allerdings als ein sehr wirkungsvoller, durch den die Legende vom Dolchstoß der Heimat in den Rücken der kämpfenden Truppe nach 1918 überhaupt erst Glaubwürdigkeit erlangen konnte.

Immer wieder überrascht bei Lektüre dieser Erinnerungen, wie gegenwärtig die Kriegsereignisse dem Verfasser auch nach einigen Jahren noch waren. Sie müssen sich wie ein Film seinem Gedächtnis eingeprägt haben. Und genauso wie er die Bilder von Tod und Zerstörung in sich aufgenommen hat, werden sie wiedergegeben – mit vor Entsetzen geweiteten Augen: „Die Toten waren zum Teil entsetzlich anzusehen, teils lagen sie auf dem Gesicht, teils auf dem Rücken. Blut, verkrallte Hände, verglaste Augen, verzerrte Gesichter. Viele hielten die Gewehre krampfhaft in der Hand, andere hatten die Hände voll Erde oder Gras, das sie im Todeskampf ausgerissen hatten.“


Oder: „Neben einem Weidengebüsch sah ich einen toten Franzosen, der bereits in Verwesung übergegangen war. Die Stirne, welche von einem Granatsplitter aufgerissen war, schaute zum Wasser heraus und war mit Maden und Würmern bedeckt.“ – „Etwas rechts vor meiner Schießscharte lag ein deutscher Soldat auf dem Gesicht, den Kopf gegen mich. Der Helm war ihm beim Sturze vom Kopf gefallen, die Haut mit den Haaren war infolge der Fäulnis herabgerutscht, und die vom Regen und von der Sonne gebleichte Hirnschale war in der Größe einer Hand sichtbar. In der einen Hand hielt er noch das rostige Gewehr mit dem Bajonett, das Fleisch war bereits von den Fingern weggefault, und die Knöchel sahen hervor. Besonders des Nachts war es ganz unheimlich, den weißen Schädel vor mir zu sehen.“

Die Nahsicht auf furchtbar verstümmelte Verwundete und Tote, auf Skelette in Drahtverhauen und im Schlamm der Schützengräben versinkende Leichen erinnert an Photographien, wie sie etwa Ernst Friedrich in dem von ihm herausgegebenen Band „Krieg dem Kriege“ (1924) gesammelt hat. Dabei ging es Dominik Richert allerdings nicht nur darum, den Krieg zu entheroisieren, sein wahres Gesicht hinter aller vernebelnden patriotischen Phraseologie zu enthüllen, sondern zugleich um eine psychische Verarbeitung der eigenen Kriegserlebnisse. Manches spricht für die Annahme, daß er sich von den bedrängend nahen, ihn peinigenden Erinnerungen zu befreien suchte, indem er sich zwang, sie möglichst detailgetreu und ungeschönt niederzuschreiben.

Wahrscheinlich konnte der Autor seine Kriegserinnerungen nur so verarbeiten, weil er selbst im Kriege seine humane Orientierung nicht verloren hatte. Inmitten der allgemeinen Verrohung und Brutalisierung, die das Leben unter den Bedingungen des Schützengrabens mit sich brachte, bewahrte er sich auf eine einfache Art seine Menschlichkeit. So half er verwundeten Franzosen, rettete wehrlose Gefangene vor Erschießung durch Kameraden, denen schon nach wenigen Wochen Krieg jede Tötungshemmung abhanden gekommen war. Die Soldaten der Gegenseite waren für Dominik Richert keine Feinde, die man vernichten mußte, sondern „arme Menschen“, „bedauernswerte Familienväter“. Nicht ihnen galt sein Haß, sondern den hohen Offizieren, die offensichtlich Spaß am blutigen Geschäft fanden, von Entbehrungen und Opfern redeten und selbst wohlgenährt in der sicheren Etappe, weitab von der Front, saßen.

Dominik Richert wollte nicht töten, aber auch nicht getötet werden – im Krieg ein kaum auflösbares Dilemma. Nicht ohne eine Spur Schwejkscher Verschmitztheit schildert er die Strategien, mit denen er seine Überlebenschancen zu verbessern suchte, etwa indem er sich bei einem Angriff in die Büsche schlug oder sich scheinbar unabsichtlich für ein paar Tage von der Truppe entfernte. Dennoch geriet er immer wieder in lebensbedrohliche Situationen – einmal durchschlägt ein Granatsplitter seinen Gewehrkolben, ein anderes Mal streift eine Kugel den Stahlhelm. Bereits im November 1914, nach dem furchtbaren Stellungskrieg in Flandern, ist seine Kompanie auf ganze 24 Mann zusammengeschmolzen; im März 1918 bleiben von den Angehörigen seiner Minenwerferkompanie noch vier übrig. „Ich glaubte, auch mein letztes Stündlein habe geschlagen“, lesen wir immer wieder in diesem Bericht eines Überlebenden, der mehrfach wie durch ein Wunder dem Tod entrann.

Im Juli 1918 entschloß sich Dominik Richert, endlich wahr zu machen, womit er schon kurz nach Kriegsausbruch geliebäugelt hatte: Er lief zu den Franzosen über – einer der Soldaten, die im Kriege „Fahnenflucht“ begingen, in den Augen der preußisch-deutschen Militärjustiz ein besonders verabscheuungswürdiges Verbrechen. Bis heute werden Deserteure in weiten Kreisen der Öffentlichkeit als Feiglinge und Drückeberger betrachtet. Aber vielleicht sollten wir uns angewöhnen, sie endlich mit anderen Augen zu sehen. Mit seinen ganz und gar unheroischen Kriegserinnerungen hat Dominik Richert nicht nur sich selbst, sondern auch den vielen anderen namenlosen deutschen Deserteuren ein Denkmal gesetzt.

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Meine Erlebnisse im Kriege 1914–1918

herausgegeben von Angelika Tramitz und Bernd Ulrich; Verlag Knesebeck & Schuler, München 1989; 414 S., 42,– DM