IM ALTER VON 20 JAHREN …
lm Alter von 20 Jahren wurde ich am 16.oktober 1913 zum Militär eingezogen und der 1.Kompanie, Infanterieregiment 112, welches in Mülhausen (Elsaß) in Garnison lag, zugeteilt. Nach etwa einem halben Jahre waren wir Rekruten durch den in der deutschen Armee üblichen Drill zu kriegstüchtigen Soldaten ausgebildet. Mitte Juli
1914 kam unser Regiment nach dem Truppenübungsplatz Heuberg an der badisch-württembergischen Grenze, um dieGefechtsübungen in großerem Maßstabe zu lernen. Wir wurden
grandpapa0028-150x150dort manchmal aufs gemeinste herumgejagt und geschliffen.    Am 29.Juli 1914 [… ] nachmittags hatte die Feldartillerie Scharfschießen. Da es uns erlaubt war zuzusehen, ging ich auch hin, denn ich war der Meinung, daß ich diese Gelegenheit vielleicht nie mehr im Leben haben würde. Das Schießen vor Ort war wirklich interessant. Ich stand hinter den Geschützen und konnte das Platzen der Schrapnells sowie die Einschläge der Granaten bei den aufgestellten Zielen genau sehen. Von dem drohenden Kriege hatten wir Soldaten nicht die geringste Ahnung. Am  30.Juli 1914 gingen wir, durch den Dienst sehr ermüdet, frühzeitig zu Bett. Etwa um 10 Uhr abends wurde die Tür plotzlich aufgerissen und vom Kompaniefeldwebel der Befehl zum sofortigen Aufstehen gegeben, da der Ausbruch des Krieges unvermeidlich sei. Wir fuhren aus dem Schlafe auf, keiner war im ersten Moment vor Überraschung fähig, ein Wort zu sprechen. Krieg, wo, mit wem? Natürlich waren sich bald alle einig, daß es wohl wieder gegen Frankreich gehe. Da fing einer das Lied »Deutschland, Deutschland über alles« zu singen an. Fast alle fielen ein, und bald tonte das Lied aus Hunderten von Soldatenkehlen in die Nacht hinaus. Mir war es absolut  nicht ums Singen, denn sofort dachte ich, daß man im Kriege nichts so gut wie totgeschossen werden kann. Das war eine äußerst unangenehme                                 15

hopitalAussicht. Auch war mir bange, wenn ich an meine Angehörigen und meine Heimat dachte, die hart an der Grenze liegt und daher der Gefahr ausgesetzt war, zerstört zu werden. Eiligst wurde nun gepackt, und noch in der N acht ging's nach dem im Donautale gelegenen Bahnhof Hausen. Da kein Zug für uns da war, marschierten wir ins Lager zurück, bis gegen nächsten Abend, um dann in einem überfüllten Zuge, zusammergepfercht wie Salzheringe in der Tonne, nach unserer Garnisonsstadt Mülhausen zurückzufahren. Morgens um 6 Uhr, 1. August 1914, kamen wir an und marschierten in die Kaserne. Bis Mittag sollte Bettruhe sein, jedoch bereits um 9 Uhr wurde ich mit noch mehreren Kameraden geweckt. Wir empfingen auf der Kammer die Kriegsmontur, alles nagelneu vom Kopf bis zu den Füßen, dann erhielt jeder von uns 120 scharfe Patronen. Nachher mußten wir in die Waffenmeisterei, wo unsere Seitengewehre geschliffen wurden.
   Da kamen mein Vater und meine Schwester nochmals zu mir, um mir Geld zubringen und Abschied zu nehmen. Nun kam der Befehl, daß kein Zivilist mehr den Kasernenhof betreten darf. Ich erhielt dann die Erlaubnis, vor dem Kasernentor noch mit meinen Angehörigen zu sprechen. Es war ein schwerer Abschied, denn man wußte nicht, ob wir uns wiedersehen würden. Wir weinten alle drei. Beim Fortgehen ermahnte mich mein Vater,ja immer recht vorsichtig zu sein, und daßich mich nie freiwillig zu irgend etvas melden sollte. Diese Mahnung war eigentlich nicht nötig, denn meine Vaterlandsliebe war nicht so gloß, und der Gedanke, den sogenannten Heldentod zu sterben, erfüllte mich mit Grauen. Nun wurde ich mit noch 8 Mann zur Wache bei der Stationskasse kommandiert. Andere Soldaten standen am Bahnhof Wache, wieder andere patrouillierten nach allen Richtungen den Gelesen entlang. Am 3. August kreiste in großer Hohe ein französischer Flieger über der Stadt. Alle Soldaten

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hopital 9 knallten in die Hohe. Jeden Augenblick glaubten wir, daß er abstürzen würde, aber ruhig zog er seine Kreise. Eine Menge Zivilisten hatten sich auf dem Bahnhofsplatz angesammelt, um zuzusehen. Plötzlich schrie einer der Zivilisten: »A Bumma!« (»-Eine Bornbe!«) Schreiend lief der Haufen Zivilisten auseinander und verschwand im Bahnhof und in den umliegenden Gebäuden. Ich selbst sprang ebenfalls in den Bahnhof und erwartete jeden Augenblick das Explodieren der Bombe. Alles blieb still. Da wagte ich mich unter dem Dach hervor, schaute in die Höhe und sah einen Gegenstand herunterkommen, an dem etwas flatterte. Bombe ist das doch sicher keine, dachte ich. In Wirklichkeit war es ein schöner Blumenstrauß, hauptsächlich aus Vergißmeinnicht bestehend, der von einem rot-weiß-blauen Band zusammengehalten war. Ein Gruß Frankreichs an die elsässische Bevölkerung.  Am 4. August verließen zwei Züge, angefüllt mit deutschen Beamten, Mülhausen in Richtung Baden. Wir hatten von ihnen mehrere Flaschen Wein erhalten, die wir uns wohl schmecken ließen. Da hieß es, daß nicht nur Krieg zwischen Deutschland und Frankreich sei, sondern zwischen Deutschland, Österreich- Ungarn und der Türkei einerseits und Frankreich, Rußland, Belgien, England und Serbien andererseits. Oja, dachte ich, das wird was abgeben. Am 5. August marschierte ich mit einer kleinen Abteilung nach Exbrücke. Wir lagen 2 Tage auf dem sogenannten Kolberg nördlich des Dorfes. Am 7. August sah ich die ersten Franzosen, es waren Patrouillen, die durch die Kornfelder kamen. Wir beschossen uns gegenseitig, doch gab's auf keiner Seite Verluste. Das Pfeifen der Kugeln regte mich anfangs sehr auf. Da bekamen wir den Befehl, uns bis über den Rhein nach Neuenburg zurückzuziehien, und marschierten dahin. Mit Tagesgrauen marschierten wir über die Rheinschiffbrücke. Beim Friedhof von Neuenburg schlugen wir unser Zeltlager auf, todmüde legten wir uns hin, um zu schlafen                                                           17

und uns von dem Marsche auszuruhen. Dort blieben wir 2 Tage, bis zum 9. August, liegen. Mehrere Regimenter Soldaten waren nun don versammelt. Und es war ein schönes militärisches Bild, das sieh dem Auge bot. Am 9. August morgens hieß es: »Fertigmachen! Antreten!« un ging's wieder über die Rheinbrücke in den großen Hardtwald hinein. Es wurde uns nicht gesagt, was los sei oder wohin wir gehen würden. [… ] Alle Unteroffiziere mußten zum Hauptmann gehen, Befehl empfangen. Dann gab jeder Gruppenführer seiner Gruppe den Befehl bekannt: Die Franzosen haben die Linie Habsheim – Rixheim – Napoleonsinsel- Baldersheim und so weiter besetzt. Wir müssen gegen Abend angreifen und sie zurückwerfen. Unser Regiment hat die Aufgabe, das Dorf Habsheim, Rixheim und die dazwischen liegenden Rebhügel zu erstürmen. Plötzlich war jedes Lachen, jeder Humor wie weggeblasen, denn keiner glaubte, die heutige Nacht zu erleben, und von der in patriotischen Schriften so oh gerühmten Kampfbegeisterung und dem Draufgängertum sah man herzlich wenig. Nun hieß es weitermarschieren. Auf dem Straßenrand lag der erste Tote, ein französischer Dragoner, der einen Lanzenstich in die Brust erhalten hatte. Ein schauderhafter Anblick: die blutende Brust, die verglasten Augen, der offene Mund sowie die verkrallten Hände. Wortlos marsehierte alles vorüber. [… ] ln der Nähe von unseren Schießständen lagen 6 tote deutsche Infanteristen, alle auf dem Gesicht. Wir mußten nun im Walde ausschwärmen und bis gegen den Wald rand vorgehen und uns dann hinlegen. lch lag in der 2. Schützenlinie. Vor uns am Waldrand standen die Flugzeugschuppen des Habsheimer Exerzierplatzes. Also mußten wir über den 1200 m breiten, deckungslosen Exerzierplatz vorgehen. Ich dachte: Die Franzosen knallen uns weg, sobald wir vorgehen. »Sprung auf! Marschmarsch!« schallte das Kommando. Die 1. Linie erhob sieh und rannte zum Walde hinaus. Ein Reservefeldwebel
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blieb liegen. leh weiß nicht, war's aus Feigheit oder war er vor Angst. ohnmächtig geworden. 
 

DIE SCHLACHT BEI MÜLHAUSEN

dr en uniformeSofort ais die 1. Schützenlinie var dem Waldrand erschien, prasseIte es ihnen aus dem etwa 1200 m entfernten Gebüsch schon entgegen. Die Kugeln zischten über uns hinweg, zischten durch das Laub oder klatschten in die Bäume. Mit klopfendem Herzen schmiegten wir uns alle an den Waldboden, so dicht wir nur konnten. »Zweite Linie, Sprung auf! Marschmarsch!« Wir erhoben uns und sprangen aus dem Walde. Sofort zischten uns die Kugeln um die Ohren. Die 1. Linie hatte sich hingelegt und hielt die Gebüsche lebhaft unter Feuer. Schon lagen einzelne Gefallene und Schwerverwundete hinter der ersten Linie herum. Leichter Verwundete rannten zwischen uns durch, zurück in den schützenden Wald. Unsere Artillerie beschoß mit Schrapnells die zwischen Rixheim und Habsheim gelegenen Rebhügel. Das Sausen der Geschosse war für uns neu. Das Krachen, Knattern und Zischen brachte uns in eine nicht geringe Aufregung. Plötzlich sauste es dicht über uns: Zwei französische Granaten explodierten kaum 20 m hinter uns. Im Laufen schaute ich mich um, und als ich den Rauch und die umherfliegenden Rasenstücke sah, dachte ich: Wenn mir 50 eine zwischen die Beine flöge, 0 weh! »In die erste Linie einschwärmen !- scholl das Kommando. Wir sprangen hin und ließen uns in den Lücken der 1. Linie zu Boden fallen. Wir mußten nun das uns gegenüberliegende Gebüsch unter Feuer nehmen. Wie oft schon hatten wir mit Platzpatronen in Friedenszeit Sturmangriffe auf jenes Gebüsch gemacht; doch damals war der Feind durch rote Flaggen markiert. Heute war es leider ganz, ganz anders. »Der Armbruster ist gefallen«, sagten 

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sich  die Soldaten gegenseitig in der Schützenlinie. Er war ein Soldat meines Jahrganges. Das regte noch mehr auf. [A., ein 23jähriger Schreiner, ist Iaut Stammrolle des 112. Infanterieregiments bei diesem Gefecht nicht gefallen, wurde an diesem Tag aber durch einen Brustschuß schwer verwundet.] Zing, schlug eine Kugel längs neben mir das Gras weg. 30 cm weiter nach links, und aus wär’s mit mir gewesen. -Sprung auf! Marschmarsch !- Alles stürzte vorwärts, sofort prasselte es uns noch viel arger entgegen. Wieder stürzten einzelne getroffen, manchmal mit schrecklichem Aufschrei, zu Boden. »Stellung, Feuer aufnehmen! 1., 3., 5., 7., 9. Gruppe springt! 2., 4., 6., 8. und 10. Gruppe schießt inzwischen Schnellfeuer l- So ging’s nun abwechselnd vor. Als wir uns dem Gebüsch näherten, horten die Franzosen mit Schießen auf. Als wir uns durch das Gebüsch gewunden hatten, sahen wir eben die letzten Franzosen beim Bahnhof Habsheim verschwinden. Das waren die ersten Franzosen, die ich beim Angriff zu sehen bekam. Im Gebüsch sah ich nur zwei Tote liegen. Als wir nun über das freie Feld gegen Habsheim vorgingen, bekamen wir wieder starkes Feuer aus dem Bahnhof und von den Rebbergen herunter. Jedoch nur ganz wenige wurden getroffen. Als wir mit Hurra den Bahnhof stürmten, waren die Franzosen schon wieder gewichen. Wir waren dort auch zu sehr in der Übermacht. Nun ging’s zum Sturm auf die Rebhügel. Anfangs prasselte uns ein starkes Feuer entgegen, doch ais wir bald oben waren, flüchteten die Franzosen in die Reben und waren verschwunden. Die französische Stellung bestand nul’aus einem etwa 50 cm tiefen Graben, dahinter Iag ein Haufen Weißbrot und ein Fäßchen Rotwein. Beides war bald in unseren Mägen verschwunden. Selbst der größte Patriot fand das französische Weißbrot  besser ais unser Kommißbrot. [… ] Inzwischen war es Nacht geworden. ln den  Reben fanden wir einen jungen, ohnmächtigen
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hopital 7Franzosen . Im Scheine angezündeter Streichhölzer sahen wir, daß er einen Oberschenkelschuf3 erhalten hatte. Ein Badenser aus Mannheim wollte ihn totschlagen, ich und mein Kamerad Ketterer aus Mülhausen hatten Mühe, den Unhold von seinem Vorhaben  abzuhalten. Da wir sofort weiter vor mußten, ließen wir den Franzosen liegen. Als wir mit Hurrageschrei auf Rixheim losstürmten, mußten sich die Franzosen zurückziehen, um  nicht in Gefangenschaft zu kommen. Trotzdem  wurden beim Häuserabsuchen noch Gefangene gemacht,  die sich vor Angst verkrochen hatten. Die meisten Soldaten waren wie verrückt und wollten überall im Dunkel Franzosen gesehen haben. Eine blödsinnige Knallerei ging los, auf Bäume und alles mogliche, sogar auf Schornsteine auf den Dächern wurde geschossen. Überall zischten und schwirrten die Kugeln herum, so daß man nirgends seines Lehens sicher war. Der größte Soldat des Regiments, der 2 m lange Hedenus, stürzte zu Tode getroffen zu Boden. [H. war ein 19 jähriger Gymnasiast, laut Stammrolle am 10. August 1914 um 10.30 Uhr durch Brustschuß gefallcn.] Einzelne Hauser waren in Brand geraten und beleuchteten die Umgebung. Die Verwundeten beider Parteien wurden aufgelesen, die Toten blieben liegen.  Wir mußten uns sammeln, marschierten in Rich- tung Mülhausen und mußten dann auf den Wiesen ctwa 1km vor Rixheim übernachten. Da wir alle naß yom Schwitzen waren, empfanden wir die Kühle der Nacht unangenehm und hatten großes Verlangen nach unseren Strohsäcken in der Kaserne. Doch müde, wie man war, schlief man bald ein. Durch Schüsse und über uns schwirrende Geschosse wurden wir aufgeschreckt. »Was ist los?« schrie alles im Dunkel durcheinander. Da die Schüsse in unserem Rücken bei dem Dorfe Rixheim aufblitzten, immer zahlreicher wurden und sogar ein Masehinengewehr anfing zu rattern, hien es: ..Die Franzosen sind in unserem Rücken«. Es gab

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hopital 6ein unbeschreibliches Durcheinander. Gellend tô nten die Aufschreie der Getroffenen. Die Offiziere befahlen uns, eine Linie zu bilden, uns hinzulegen und die Stellen, wo die Schüsse aufblitzten, krâftig unter Feuer zu nehmen. Mehrere Minuten knallte alles drauflos. Da hieß es plôtzlich, es sind ja Deutsche. »Feuer einstellen!« Wir mußten nun »Deutschland, Deutschland über alles. singen, damit die Soldaten bei Rixheim hôren sollten, daß wir Deutsche seien. Herrgott, war das ein Gesang! Fast alle drückten das Gesicht in den Rasen, um môglichst gedeckt zu sein. Langsam flaute das Feuer ab. Die Offiziere làrrnten und schimpften. Aber die armen Gefallenen konnten sie nicht mehr lebendig machen. Wir hatten durch die deutschen Kugeln so viele Verluste wie von den franzôsischen. Am folgenden Morgen marschierten wir nach der Napoleonsinsel. Überall sah man einzelne Tote, Deutsche und Franzosen, umherliegen, ein grauenerregender Anblick. Wir marschierten bis Sausheim, machten kehrt, dieselbe Strecke zurück nach Mülhausen, wo wir um 10 Uhr abends unter den Klangen der Regimentsmusik einzogen. Die Einwohner verhielten sich ruhig, und ich glaubte in vielen Gesichtern zu lesen, daß unsere Rückkehr unerwünscht war. Die nâchsten 2 Tage bezogen wir Alarmquartier in unserer Kaserne und konnten ausruhen. Die meisten wollten nun weiß Gott was für Heldentaten vollbracht und eine Unmenge Franzosen totgeschossen haben. Besonders diejenigen rissen das Maul am weitesten auf, die wâhrend des Gefechts am meisten Angst gehabt hatten. Am 12. August marschierten wir in Richtung Baden, überschritten beim Isteiner Klotz den Rhein und wurden mitten in der Nacht in dem badischen Dorf Eimeldingen in Scheunen einquartiert. Am folgenden Tag wurden wir an der Bahn verladen. [… ] In Freiburg erhielten wir eine Unmenge Liebesgaben, hauptsàchlich Schokolade, Zigarren, Zigaretten 22

und Obst.Nun ging's weiter , kein Mensch wußte,
wohin. Alle möglichen Gerüchte wurden laut: nach Nordfrankreich, Belgien, Serbien, Rußland und so weiter. Jedoch alle hatten sich getauscht, denn bei Straßburg fuhren wir wieder über den Rhein und mußten morgens bei Tagesgrauen in Zabern den Zug verlassen. Sofort marschierten wir die Zaberner Steige hinauf nach Pfalzburg (Lothringen). Es war ein herrlicher, klarer Sommermorgen und die Aussicht an einigen Stellen über die elsässische Ebene wunderbar. Wir blieben in höchster Alarmbereitschaft, selbst kein Stiefel durfte ausgezogen werden. In der Ferne horten wir Kanonenschüsse. Also schien auch hier etwas los zu sein. Gegen Abend ging's weiter in Richtung Saarburg. Auf einer Hôhe mufiten wir Schützengrâben ausheben, eine richtige Schinderei, mit den kleinen Spaten konnte man den harten, trockenen Lehmboden nur mit groüer Anstrengung wegarbeiten. [… ] Bei Anbruch der Nacht entlud sich ein schweres Gewitter über der Gegend, es wurde stockfinster, und ein wolkenbruchartiger Regen ging nieder. Keiner hatte mehr einen trockenen Faden am Leibe. In den Stiefeln hatte sich das Wasser derart angesammelt, daß wir dieselben ausleeren konnten. Wir hockten oder standen auf dem Felde umher und fingen vor Nässe an zu schnattern wie Gänse. »Alles nach Rieding, Quartier suchenl- Wir tappten über das nun nasse Feld und kamen endlich auf die Straße, die ins 1iorf führte. Es war derart mit Soldaten überfüllt, daß wir lange kein freies Plätzchen unter Dach fanden. Ketterer aus Mulhausen, Gautherat aus Menglatt und ich hielten uns zusammen: »Ln der Kirche gibt's sicher noch Platz «, meinte Ketterer. Wir gingen hin, jedoch dasselbe Bild. Die Soldaten hatten die Altarkcrzen angezündet, so daß die Kirche ziemlich erleuchtet war. Überall in den Banken und in den Gängen Truppen. Sogar auf dem Altare lagen oder saßen die Soldaten herum. Wir verließen die Kirche 23

hopital 5und kamen am Dorfende zu einem Haus, dessen Haustür verschlossen war. ln der Scheune kampierten Husaren. Wir rüttelten an der Türklinke, niemand kam. Ketterer polterte mit dem Cewehrkolben, zuerst leise, dann immer stärker, an die Haustür. Endlich fragte jemand: »Wer ist denn drau en?« – »Drei Soldaten, Elsässer «, sagte ich, » möchten sich gerne einquartieren. Wir sind zufrieden, wenn wir am Boden schlafen körmen.« Die Tür ging" auf. Wir mußten in die Küche. »Herrgott, seid ihr naß!- klagte die Frau, machte uns unaufgefordert heiße Milch, gab uns Brot und Butter dazu, das wir uns wohl schmecken ließen. Die freundliche Frau sagte uns, daß sie nur ein freies Bett habe. Wir zogen uns dann alle drei nackt aus und krochen ins Bert. Die gute Frau halte unsere nassen Kleider und trocknete sie am Ofen. Als wir am folgenden Morgen erwachten, waren alle Soldaten aus dem Dorfe verschwunden. Die Frau brachte uns unsere trockenen Kleider, und wir mußten noch frühstücken. Jeder wollte dann der Frau für ihre Bemühungen 1 Mark geben [Tagessold eines Soldaten: 53 Pfennig]; sie wollte jedoch nichts. Dankend nahmen wir Abschied. Nun gingen wir auf die Suche na ch unserer Kompanie, die wir auf der Hôhe trafen, wo wir am vorhergehenden Abend einen Schützengraben ausgehoben hatten. Am Mittag marschierten wir nach dem Dorfe Bühl, hielten, marschierten weiter, hielten wieder und so weiter. Von vorne marschierten mehrere Regimenter Bayern – Infanterie, Artillerie, Kavallerie – an uns vorüber, zurück. Kein Mensch wußte, woran er war. Endlich marschierten auch wir zurück und mußten hinter dem Dorfe Rieding an einem Waldrand in einer sumpfigen Mulde einen Schützengraben ausheben. Wo man hinsah, arbeiteten Liniensoldaten am Grabenbau. Batterien wurden versteckt eingebaut. Bald war uns allen klar, daß wir hier die Franzosen aufhalten sollten. Mehrere Tage vergingen ohne Zwischenfall. Am 18. August kamen24 ​

französische Granaten angeflogen; diejenigen, die in unserer Nähe in den Sumpfboden einschlugen, explodierten nicht, während andere auf dem harten Ackerboden mit lautem Krach zersprangen. 

19. AUGUST 1914 – SCHLACHT BEI SAARB URG (LOTHRINGEN) 

     hopital 1ln der Nacht vom 18. zum 19. August hatten die Franzosen die vor unseren Linien liegenden Dôrfer sowie das dazwischen liegende Celânde besetzt. Am Morgen in der Frühe wurde bei uns der Befehl zum allgemeinen Angriff gegen die Franzosen gegeben. Mit einem Schlag war alles Lachen, aller Humor wie weggeblasen. Alle Gesichter hatten denselben ernsten, gespannten Ausdruck. Was wird der Tag bringen? Ich glaube nicht, daû einer an das Vaterland oder an sonstigen patriotischen Schwindel dachte. Die Sorge um das eigene Leben drângte alles andere in den Hintergrund. Auf der Straße, die bergab etwa 500 m von uns nach dem Dorfe Rieding führte, fuhr in schnellstem Tempo die etwa 80 Mann starke Radfahrer-Kornpanie unseres Regiments auf das Dorf los. Kaum war sie hinter den ersten Häusern verschwunden, als eine tolle Schießerei im Dorfe losging. Die ganze Kompanie wurde vernichtet, bis auf 4 Mann. Plötzlich setzte das deutsche Artilleriefeuer ein, die Franzosen antworteten. Die Schlacht hatte begonnen. Mit geladenem Gewehr und umgehängtern Tornister knieten wir im Graben und warteten mit klopfenden Herzen auf weitere Befehle. »Das Bataillon geht geduckt im Graben nach der Straße hinüber. Weitersagen!« Alles setzte sich mit gebücktem Oberkörper in Bewegung. Mehrere französische Granaten schlugen dicht beim Graben ein, so daß man sich sekundenlang auf den Grabenboden warf. Wir erreichten nun die Straße und krochen – meist auf 25

allen vieren – den Straßengraben entlang vorwärts. Nur zu bald hatte uns die französische Artillerie entdeckt. plötzlich ein Sausen, ein Blitz über uns, ein Schrapnell war geplatzt, doch keiner wurde getroffen. Ssst-bum-bum, kamen sie nun angeflogen. Aufschreie hier und dort, mein zweiter Vordermann schrie auf, stürzte zu Boden, walzte sich herum und schrie jammernd um Hilfe. Das regte auf. »Vorwärts, marschrnarsch!« Alles rannte nun im Straßengraben vorwärts, doch die französischen Geschossen waren schneller, die Verluste häuften sieh. "Bataillon nach links heraus, kompanieweise mit 4 Schritt Abstand, in Schützenlinien schwärrnt. Marschmarsch!- ln kaum 2 Minuten war das Bataillon ausgeschwärmt, im Laufschritt ging's weiter. Die französische Infanterie, von der wir nichts sehen konnten, eröffnete nun ein lebhaftes Feuer auf uns. Wieder gab es Verluste. Vom Laufen und von der Aufregung klopfte das Herz bis zum Halse hinauf. Wir stürmten den Bahnhof Rieding. Vor unserer Übermaeht mußten die Franzosen an dieser Stelle weichen. Einige Gefangene blieben in unserer Hand. Hinter der Bahnböschung mußten wir gedeckt liegenbleiben und konnten wieder Atem schöpfen. Überall hörte man das Donnern der Geschütze, das Bersten und Krachen der Granaten 50- wie das Geknatter der Infanterie und Maschinengewehre. Oh, wenn wir nur lange in dieser Deckung liegenbleiben könntenl dachte ich. Ja, Kuchen! Ein anderes Bataillon schwärmte von rückwärts bei uns ein "1. Bataillon Infanterieregiment 112 zieht sich gedeckt nach links rüber!« Wir gelangten nun in eine Mulde, erreichten einen Wald und gingen etwa 2 km im Bogen herum, um das Dorf Bühl, welches von den Franzosen tapfer verteidigt wurde, von der Seite anzugreifen. Kaum verlief unsere 1. Linie den schützenden Wald, als schon die französischen Granaten hopital 4angesaust kamen. Sie waren gut gezielt, und die Erdschollen schwirrten brummend um unsere Këpfe, richteten jedoch in unseren aufgelösten Linien26

nien wenig Schaden an. Wir mußten ein flaches Tal durchqueren, durch welches ein Bach floß. Da die Wiesen gar keine Deckung boten, blieb uns nichts übrig, als im Bache hinter der jenseitigen Bëschung Deckung zu suchen. "wir standen fast 2 Stunden bis an den Leib im Wasser, duckten uns dicht an die Böschung, während die Schrapnells die Erlen und Weiden über unsern Köpfen in Fetzen rissen. Wir bekarmen aus dem Walde mehrere Linien Verstärkung und mußten zum Angriff auf die Höhe vorgehen. Ein prasselndes lnfanteriefeuer knatterte uns entgegen. Mancher arme Soldat fiel ins weiche Öhmdgras. [Südwestdeutsch Ohmd: Heu, die zweite Mahd] Weiter vorzugehen war unmöglich. Alles warf sich zu Boden und suchte sich mit Spaten und Händen einzugraben. Zitternd,dicht an den Erdboden geschmiegt, lag man da, jeden Augenblick den Tod erwartend. Da hörte ich auf der Höhe furchtbare Explosionen, hob ein wenig den Kopf und schaute hinauf. Croße, schwarze Rauchwolken schwebten dort oben, neue Rauchwolken schossen in die Höhe, Erdschollen flogen umher. Die deutsche Fuß-Artillerie hielt die Hohe stark unter Feuer. Wir konnten nun die Höhe und das Dorf mit wenigen Verlusten nehmen. ln einem ausgehobenen Keller auf einem Bauplatz suchten wir gegen die französische Artillerie Deckung. eben mir lag ein badischer Reservist, Vater von zwei Kindern. Er zog eine Zigarre hervor, beim Anzünden sagte er zu mir: »Wer weiß, es ist vielleicht die letzte.. Kaum hatte er diese Worte gesprochen, als ein Schrapnell über uns platzte. Ein Splitter durchschlug den Tragriemen des Tornisters auf der Brust und drang ins Herz. Der Reservist stief einen Schrei aus, schnellte hoch und fiel tot hin. Zwei andere Soldaten und unser Hauptmann wurden verwundet. Wir blieben bis gegen Abend im Keller liegen. Dann ging's weiter; ohne auf Widerstand zu stoßen, besetzten wir die südwestlich von Bühl gelegenen Höfe. Wir sollten dort die Nacht verbringen. Todrnüde, abgehetzt, 27

naß von Schweif und Bachwasser legte sich alles hin. Ich selbst halte in der Nähe stehende Hafergarben, breitete zwei in einer Furche aus und deckte mich mit zwei anderen zu. Ich schlief bald ein. plötzlich ging ein Geschrei und eine SchieI3erei los. »Sofort drei Linien bilden! Erste liegen, zweite knien, dritte stehen! Sofort Schnellfeuer nach vorne erôffnen!« Alles rannte nun hin, im Nu waren die Linien gebildet, und die Franzosen, die einen Gegenangriff machten, wurden mit einem furchtbaren Schnellfeuer empfangen. Trotzdem kamen sie stellenweise bis in die deutschen Linien, wo im Dunkel mit dem Bajonett gekämpft wurde. schließlich zogen sich die Franzosen wieder zurück, und die Ruhe kehrte wieder ein. Ich selbst hatte mich an der ganzen Sache nicht beteiligt und drückte mich so tief wie möglich in meine Hafergarben. Lange konnte ich nicht einschlafen. Das Jammern, Um-Hilfe-Rufen und Stöhnen der Verwundeten ging mir sehr zu Herzen.schließlich schlief ich wieder ein. Um 2 Uhr morgens
kam endlich die Feldküche, es gab Essen: heiI3en Kaffee und Brot. Der heiûe Kaffee schmeckte herrlich, man hatte kalt in den feuchten Kleidern bekommen. Da etwa die Hälfte der Mannschaften fehlte, erhielt man, so viel man wollte. Ich füllte noch meine Feldflasche für den folgenden Tag. Dann kroch ich wieder in meine Hafergarben und erwachte erst, als mir die Sonne ins Gesicht schien. Ich stand auf. Welch ein Anblick bot sich mir! Vor uns lagen tote und verwundete Franzosen, so weit man blicken konnte. Die toten Deutschen lagen auch noch da, die Verwundeten waren schon weggeschafft. lch ging zu den nächsten franzôsischen Verwundeten und verteilte ihnen meine Feldflasche Kaffee. Wie diese Armen dankten! Deutsche Sanitätswagen fuhren heran, die die verwundeten Franzosen wegführten. Die Toten waren zum Teil entsetzlich anzusehen, teils lagen sie auf dem Gesicht, teils auf dem Rücken. Blut, verkrallte Hände, verglaste Augen, verzerrte Gesichter. Viele hielten die Gewehre krampfhaft in 28

ausgerissen hatten. Ich sah viele Soldaten beisammenstehen an einer Stelle, ging hin, und es bot sich da ein entsetzliches Bild. Ein deutscher und ein französischer Soldat lagen da halb kniend gegeneinander. Jeder hatte den anderen mit dem Bajonett durchbohrt und waren so zusammengesunken. Nun wurde ein Korpsbefehl verlesen: Gestern wurden die Franzosen in 100 km Breite von Metz bis zum Donon angegriffen und trotz tapferer Gegenwehr zurückgeworfen, so und sa viele Gefangene fielen in unsere Hand, Geschütze wurden erbeutet. Die Verluste werden auf jeder Seite auf 45000 Mann geschätzt. Unseren Soldaten gebühre voiles Lob für ihren Mut und ihr Heldentum, und der heiûe Dank ihres Vaterlandes sei ihnen gewiß und so weiter und so weiter. Mut, Heldentum, ob es das wohl gibt? Ich will es fast bezweifeln, denn im Feuer sah ich nichts als Angst, Bangen und Verzweiflung in jedem Gesicht geschrieben. Von Mut, Tapferkeit und dergleichen überhaupt nichts, denn in Wirklichkeit ist's doch nur die furchtbare Disziplin, der Zwang, der den Solda- ten vorwärts und in den Tod treibt. 20. AUGUST 1914 ich mußte dann mit einem Unteroffizier und 10 Mann nach Bühl, Munition holen, um die verschossene zu ersetzen. Nahe dem Dorfe stand ein Feldkreuz. Eine Granate hatte den Kreuzesstamm in Kniehöhe des Heilandes sowie das Querholz weggerissen. Der Heiland stand unversehrt mit ausgestreckten Händen da. Ein erschütterndes Bild, wortlos gingen wir weiter. Etwa um 10 Uhr morgens hieß es: »Alles fertigrnachen, vorwärts!« ln mehreren Schützenlinien ging's 29
hopital 3nun wieder den Franzosen entgegen. Bald kamen einzelne Granaten heranget1ogcn, eine schlug in die dort stehende Ferme [Pachthof in Frankreich, Gut], die alsbald lichterloh brannte. Kein Mensch dachte ans LöschcnvWeit vorn sah ich ein Pferd mit hängendem Kopfe in einem Haferfelde stehen. beim hinzukommen sah ich, da dasselbe bei seinem toten Reiter, einem französischen Kavalleristen, stand und selbst an einem hinteren Beine und am Bauch schwer verwundet war. Aus Mitleid schoß ich ihm eine Kugel in den Kopf. Tot brach es zusammen. Einige Schritte weiter trat ich im Hafer auf etwas Weiches. Es war eine abgerissene Hand, an der noch ein Fetzen vom Hemdârrnel hing. Unweit davon lag neben einem Granatloch die zerrissene Leiche eines französischen Infanteristen, jedenfalls der Eigentürner der abgerissenen Hand. Beim Weitervorgehen erhielten wir starkes Granatfeuer. lm Laufschritt eilte alles hinter den steilen Abhang eines vor uns liegenden etwa haushohen Hügels. Die Granaten schlugen nun entweder oben auf der Höhe ein oder sausten über uns hinweg. Nun ging's aber los mit Schrapnells, die fast alle über uns platzten. 0 diese verflixten 75er-Kanonen! Wie der Teufel kamen die Geschosse herangesaust. Man hatte nicht einmal Zeit, sich zu Baden zu werfen. ln einer Sekunde: Abschuû, Sausen und Krepieren. Vor Angst hielten wir die Tornister über unsere Köpfe, doch gab es bald mehrere Verluste. Unser Major namens Müller gab uns ein Beispiel großer Unersehroekenheit. Eine Zigarre rauchend, ging er zwischen uns, die platzenden Schrapnells nicht achtend, hin und her, uns aufmunternd, keine Angst zu haben. Etwa 500 m links, rückwârts von uns, fuhr eine deutsche Batterie auf. ln wenigen Minuten war dieselbe von der französischen Artillerie zusammengeschossen. Nur wenige Kanoniere konnten sich . durch Davonlaufen retten. Allmâhlich horte das Schießen auf, wir gingen weiter vor und brachten die Nacht im Walde bei dem Dorfe Hatten zu. 30

21.AUGUST 1914-GEFECHTHEI LöRCHINGEN (LOTHRINGEN)

Morgens in der Frühe ging's nun wieder weiter, in c-inern Tale der Ortschaft Lürcbingen zu. Ein Leutnant Vogel, ein verdrießlicher, schlecht aussehender, heiserer Mensch, führte seit der Verwundung unseres Hauptmanns die Kompanie alleine nach Lörchingen. im Dorfe angekommen, meldeten vor- ausgeschickte Patrouillen: »Auf der Hôhe links von dem Dorfe, fast in unserem Rückert, zurückgehende französische Infanterie.« lm Laufschritt ging's das Dorf hinauf, und wir besetzten dort eine mit einer starken Mauer umgebene Cârtnerei. Die Franzosen, die in etwa 400 m Entfernung ahnungslos auf uns zukamen, wurden plôtzlich von einem furchtbaren Feuer überschüttet. Viele stürzten, andere warfen sich hin und erwiderten das Feuer. Doch konnten sie uns nichts anhaben, da wir durch die Mauer gedeckt waren. Da hielten einzelne, dann immer mehr die Gewehrkolben in die Höhe, zum Zeichen, daß sie sich ergeben wollten. Wir hörten auf mit Schießen. Da sprangen mehrere Franzosen auf, um zu fliehen. Sie wurden zusammengeschossen. Mich dauerten die armen Menschen. Ich konnte es nicht fertigbrin- ,auf sie auf sie zu schießen. »Vorwârts, marschmarsch!« schrie Leutnant Vogel. »Wir wollen den Rest der Bande gefangennehmen!« Alles kletterte über die Mauer und lief den Franzosen zu. Diese schossen nicht mehr. Da plötzlich von rückwärts ein Sausen. Bum, zerplatzte ein großes Schrapnell über uns, mehrere folgten. Wie vom Blitze getroffen, stürzten mehrere Mann zu Baden. Alles wollte nun zurück-. laufen, Deckung suchen, denn wir wurden von unserer eigenen Fußartillerie beschossen, und das regte auf. Leutnant Vogel schrie: »Vorgehen!« Ais einige Soldaten zögerten, schoß er kurzerhand vier dersel- ben nieder, zwei waren tot, zwei verwundet. Ein gu- ter Kamerad von mir namens Sand war einer der Verwundeten. (Der Leutnant Vogel wurde zwei Mo- 31

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hopital 827. AUGUST 1914 Morgens sollte eine Patrouille, bestehend aus einem Leutnant und 8 Mann, die Leiche des Majors Müller aus dem Walde holen. Bald hôrten wir aus der Rich- tung, die sie eingeschlagen hatten, Schüsse. Keiner kehrte zurück. Wie Soldaten erzählten, hatte auch Major Müller zwei verwundete Franzosen mit der Pistole erschossen. Gut, daß ihn sein Schicksal er- reichte. Auch der Unteroffizier Schirk fehlte [der 22jahrige Metzger wurde bei diesem Gefecht laut Stammrolle schwer verwundet], ebenso ein Reser- vist, der ebenfalls einen Verwundeten erschoß. Ich ging nun nach Thiaville, um einige Kochge- schirre Wasser zu holen zum Kaffeekochen. Neben der Straße stand eine Batterie des 76. Feldartillerie- Regimentes. Die Mannschaften empfingen eben Es- sen von der Feldküche. »Richert, wo laufsch urma?« schrie ein Kanonier. Es war der Jules Wiron aus Dammerkirch. »Hasch Hunger? » fragte er mich. Ais ich bejahte, empfing er noch eine gehörige Portion für mich, welche mir trefflich mundete, dann füllte er aus einer groBen Korbflasche, die auf der Protze [Vorderwagen von Geschützen] stand, mein Koch- geschirr mit gutem Weißwein. [… ] Gegen Mittag gingen wir zurück über die Meurthe und marschierten etwa 5 km talabärts nach dem Städtchen Baccarat, das 2 Tage zuvor von den Deut- schen erobert worden war. Heiß muß der Kampf besonders an der Meurthe-Brücke gewesen sein. Das Geschâftsviertel auf der westlichen Seite des FlüBchens war total verbrannt, der Kirchturm durchlöchert. lm Stadtgarten mußten wir unsere Zelte aufschlagen und konnten dort 2 Tage ausru- hen. Neben unseren Zelten war ein Massengrab, in dem über 70 Franzosen ruhten. Daneben war ein bayerischer Major beerdigt. Alle Hühner, Kaninchen und Schweine, welche noch auszutreiben waren, wurden trotz des Protestes verschiedener Einwohner gestohlen und geschlach- 42

tet. Der noch vorhandene Wein wurde ebenfalls aus den Kellern gestohlen, und überal! sah man betrunkene Soldaten. Mit frischen, aus Deutschland kommenden Soldaten wurden die Kompanien wiederaufgefüllt. Dann ging's wieder vorwârts, zuerst aufwârts in Richtung Ménil. Links und rechts auf dem Stral3enrand lag eine Unmenge von den Franzosen weggeworfener Tornister, Gewehre, eine Trommel und Trompe- ten. Weiter oben gingen wir durch den Wald, überall lagen tote deutsche und französische Alpeninfanteristen im Gebüsch. Sie fingen bereits an zu verwesen und strömten einen entsetzlichen Geruch aus. Auf einer Anhöhe jenseits des Waldes mul3ten wir Schüt- zengräben ausheben. Da es hei war, schickte mich mein Unteroffizier mit mehreren Eßgeschirren auf die Suche nach Wasser. Ich fand solches in einem Straßengraben in der Mulde hinter uns. Ich trank sofort 3 bis 4 Becher voll und füllte die Kochgeschirre. Es kam mir nach dem Trinken vor, als habe das Wasser einen faulen, widerlichen Geschmack, glaubte, daß das langsame Fließen daran schuld sei. Ich ging dann einige Schritte den Graben entlang, ein entsetzlicher Gestank kam mir in die Nase. Ne- ben einem Weidengebüsch sah ich einen toten Franzosen, der bereits in Verwesung übergegangen war. Die Stirne, welche von einem Granatsplitter aufgerissen war, schaute zum Wasser heraus und war mit Maden und kleinen Würmern bedeckt. Ich hatte das durch den Toten sickernde Wasser getrunken! Es erfaßte mich ein furchtbarer Ekel, so dass ich mich mehrmals erbrechen mußte. [… ]43